Ein zorniger Appell, der sich bebend über Berge aus Schrott bewegt, ein Auto im Morgengrauen, das mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über verlassene Straßen fährt und eine stumme Statistin, die sich in zusammengepuzzelten Filmsequenzen aus dem Hintergrund schält. Zwanzig kurze Begegnungen bilden das diesjährige Programm der Berlinale Shorts. Einakter und komplexe Geschichten, Animations-, Real- und Dokumentarfilme, unaufgeregte Beobachtungen und exzentrische Farbspiele. Zwischen drei Minuten Farbflimmern und einer halben Stunde Spielfilmdrama bewegen sich viele der Beiträge eng am Zeitgeist. Das Lebensgefühl in Zeiten politischen Umbruchs, eine niemals endende Flucht, Klimaapelle, Verlustverarbeitungen und Identitätsdiebstahl sind nur eine Handvoll Themen, die die abwechslungsreiche Auswahl 2023 auf die Leinwand bringt. Einige dieser 20 Filme sollen im Folgenden kurz herausgegriffen werden.

As miçangas Filmstill

As miçangas ©2023 Joanna Ramos

In fünf Blöcken taucht die seit 2007 bestehende Sektion für wenige Minuten in die Lebensrealitäten und Mysterien unterschiedlichster Protagonist*innen ein. Manche von ihnen sehnen sich nur nach der Sonne, andere schmücken ihren Alltag in einem provinziellen Supermarkt mit Poesie oder versuchen, Kontakt mit ihren Geliebten aufzunehmen. Zurückgezogen in einem abgelegenen Ferienhaus zeigt „AS MIҪANGAS“ („PERLEN“) beispielsweise zwei junge Frauen, von denen eine einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch durchläuft, während die andere ihr zur Seite steht. Von der schweigsamen Schwesternfürsorge erzählt Regisseurin Rafaela Camelo in unaufgeregten naturalistischen Bildern, die abwarten und durch die sich seichte Symbole ziehen. Wie die Pillen, die zu titelgebenden Perlen werden, welche ein selbstbestimmtes Weiterleben realisieren sollen.

Hochgeschwindigkeits-Date und albtraumhafte Erinnerungspuzzle

It's a Date Filmstill

It’s a Date ©2023 Phalanstery Films, Radar Films

Einen ordentlichen Tempowechsel gibt es unter anderem in IT’S A DATE, dem ukrainischen Kurzfilm und Remake des Mitte der 1970er erschienen französischen Kurzfilms C’ÉTAIT UN RENDEZ-VOUS. Wo Claude Lelouch ein Auto 1976 mit riskanter Geschwindigkeit durch die Straßen Paris manövrierte, ist der Handlungsort Nadia Parfans Berlinale-Beitrag ein im Morgengrauen wie leergefegtes Kyiv zur Zeit des russischen Angriffskrieges. Ohne Halt rast das Auto der Regisseurin durch die von gespenstiger Ruhe gezeichnete Stadt im Ausnahmezustand. Sie passiert leere Straßen, Plätze mit Militärfahrzeugen, doch der Krieg ist nur ein Bestandteil der kurzen Momentaufnahme, die zum Ziel eine einfache Umarmung mit der Liebsten hat. Aus fesselnder Perspektive gefilmtes, simpel strukturiertes, aber umso effektiveres Werk – durch seinen aktuellen Kontext noch wirksamer und beklemmender als das französische Original.

Back Filmstill

Back ©2023 Prospektor

Ebenso ruhelos und die Folgen eines Krieges verarbeitend, flieht der Protagonist von BACK vor wiederkehrenden Albträumen. Der Film von Yazan Rabee ist dabei immer in Bewegung, fokussiert Schritte, Schuhe, Füße, die fortrennen. Originalaufnahmen von Demonstrationen in Syrien treffen auf in sich verschwimmende Erinnerungen und (Alb-)Träume. Ein impulsives Stimmungsmosaik mit biografischen und zeitdokumentarischen Elementen.

Darfs noch etwas mehr sein?

From Fish to Moon Filmstill

From Fish to Moon ©2023 Kevin Contento

Gegenüber den zeitpolitischen Kurzfilmen wirkt die Miniatur-Alltagsstudie eines US-amerikanischen Supermarktes beinah wie ein schlichtes Intermezzo. FROM FISH TO MOON beobachtet die Mitarbeiter*innen und Kund*innen eines kleines Ladens, in dem sich unterschiedlichste Biografien und Lebenseinstellungen die Hand geben. Gespräche übers Sortiment, Aufnahmen von Klimaanlagen und flackernden Lichtern vermischen sich mit Produktschau und Rezitationen, die sich zu einem eigenwilligen Mikrokosmos kombinieren. Neben jenen marginalen Einblicken in Alltag und Gesellschaft, manche spröde, andere kurzweiliger, bleibt von Kevin Contentos Films  nicht viel zurück.

Terra Mater - Mother Land Filmstill

Terra Mater – Mother Land ©2023 Films du Léopard, RGBW

Einprägender sind die Bilder von TERRA MATER – MOTHER LAND, die zwar ebenso lose strukturiert, aber deutlich kraftstrotzender in Szene gesetzt sind. Aufnahmen von einer Landschaft aus Müll, von Bergzyklen aus Schrott und Menschen, die in Überresten aus Metall, Plastik und Stoff gekleidet sind, gestalten die Bildebene Kantarama Gahigiris aktuellsten Kurzfilms. Zudem stößt ein emotional aufgeladenes und mit Forderungen besticktes Voice-Over. In zehn Minuten liegen Appell und künstlerische Installation eng beieinander, während der Earth Spirit Transhumanismus, Ausbeutung und Neo-Kolonialismus anprangert. Tiefgreifender als jene Anklagen durchdringt der Kurzfilm keines der Themen. Was bleibt, ist ein Aufruf.

Akte Animationsfilm: Frösche und Verbrechen

Eeva Filmstill

Eeva ©2023 Eesti Joonisfilm & Adriatic Animation

Fröhlichen Untergang wünscht der österreichische Kurzfilm von Billy Roisz und liefert drei Minuten flackernde, sich wölbende und schrumpfende Lichtspielerei. Durchsetzt von Dröhnen, Brummen und hochfrequentierten Signaltönen ist HAPPY DOOM ein kurzes, einprägsames Film-Schnipsel, von dem nicht mehr als das Erlebnis im Moment bleibt. Erzählerischer entspinnen sich da die Welten anderer Short-Beiträge wie der von EEVA und A KIND OF TESTAMENT. Der eine ein mehraktiges Trauerspiel in Grautönen und roten Farbtupfern, in dem ein Mysterium und bitterer Humor eng beeinander liegen und das sich nur vage selbst entwirrt, der andere eine Geschichte um Identitätsdiebstahl, in symbolhaltigen, aufgeregten Bildern erzählt und nicht nur mit seiner Kriminalgeschichte und Horrorelemente verarbeitenden Handlung, sondern auch seiner Inszenierungsweise am Zeitgeist.

Ein Highlight, nicht nur des Animationsfilm, sondern aller Berlinale-Shorts ist der deutsche Wettbewerbsbeitrag dokumentarischer Art. In überschaubaren Bildern skizziert Volker Schlechts THE WAITING die Nachforschungen zum Verschwinden verschiedener Froscharten im mittelamerikanischen Regenwald. Analytisch begleitet durch das Voice-Over von Karen Lips, begeben sich die 16 Minuten auf eine unscheinbare, flüchtig animierte Spurensuche. Als würde der Einblick in eine mit Informationen über Hautanomalien und Froschsterben gefüllte Akte gewährt und nebenbei eine kleine Galerie durchlaufen werden. Ein kurzer und informativer, kreativ sowie spannend bebilderter Kurzfilm.

Die Statistin zwischen den Bildern

The Veiled City Filmstill

The Veiled City ©2023 BFI National Archive

Würden alle Filme der diesjährigen Berlinale Shorts nacheinander gespielt werden, säße man für knapp sechs Stunden im Kino. Und wäre damit womöglich kurzweiliger unterhalten, als bei manchen Zweistündern anderer Sektionen. Eindruck hinterließ neben vielen kleinen Sozial- und Milieustudien wie MARUNGKA TJALATJUNU und HUIT, dem Figurenstück DAUGHTER AND SON und dem in einen dystopischen Nebel getauchten, Vergangenheit und Zukunft unheimlich verknüpfenden und in seinen eindringlich-tragischen Schwarzweißbildern bedrohlich wie anklagenden THE VEILED CITY, vor allem die Geschichte einer Person.

Jill, Uncredited Filmstill

Jill, Uncredited ©2023 Loop

In dem aus einer Vielzahl an Filmausschnitten zusammengepuzzelten Kurzfilm von Anthony Ing wird eine Frau zur Hauptfigur, die für gewöhnlich als eine von vielen den Hintergrund in Filmen zum Leben erweckt. Das ungewöhnlichen Porträt ist keine dokumentarische Ausleuchtung der Rolle einer Komparsin, sondern eine fiktionalisierte Lebensgeschichte, die sich aus zahlreichen ihrer Kurzauftritte (unter anderem aus FRENZY, THE ELEPHANT MAN und MR. BEAN) zusammensetzt, ohne sich zu einem Best-Of ihrer Arbeit zu entwickeln. Filmszenen verlangsamen sich oder frieren ein, um die Frau inmitten vieler anderer Darsteller*innen auszumachen zu können und ihr in gewissenhafter Aneinanderreihung ein gespenstisches Eigenleben zu schenken. Losgelöst von Zeit und Genre durchwandert die Frau eine thematisch sorgfältig komponierte, niemals willkürlich, sondern märchenhaft anmutende Geschichte, in der sich mit dem Aufgreifen des Pflegeberufes noch weitere Dimensionen abzeichnen. Ein bewegendes, musikalisch einfühlsam begleitetes und nahbares Projekt, das nach eigenen Angaben nicht einmal 5% des eigentlichen Schaffens der Darstellerin verarbeitet und bereits damit einer Figur mehr Leben einhaucht als es vielen anderen Filmen mit ihren Hauptcharakteren gelingt. Eine Ode an das Geschichtenerzählen und das Filmen, eine Ode an die Statist*innen und Darsteller*innen, eine Ode an sie. JILL, UNCREDITED.

Welche von diesen und den sechs anderen Kurzfilmen letztendlich mit einer Auszeichnung aus dem diesjährigen Wettbewerb der Berlinale Shorts gehen werden, wird am 25. Februar 2023 bekannt gegeben.