Bewertung Michel Rieck

FilmkritikCast

Originaltitel: First Cow
Streamingstart: 09.07.2021
Länge: ca. 122 Minuten
FSK: ?
Produktionsland: USA
Regie: Kelly Reichardt
Schauspieler:innen: John Magaro | Orion Lee | Toby Jones
Genre: Drama | Western
Verleih: MUBI

First Cow

First Cow ©2021 Mubi | Allyon Riggs | Courtesy of A24

Mit ihrem neuesten Film war Regisseurin Kelly Reichardt (CERTAIN WOMEN) unter anderem im Hauptwettbewerb der 70. Internationalen Filmfestspiele Berlins vertreten und erhielt darüber hinaus zahlreiche Lobeshymnen und Nominierungen für Beste Regie und den besten filmischen Beitrag bei einer Vielzahl an etablierten Filmpreisen. Umso verwunderlicher war es, dass ihr neustes Werk bei den diesjährigen Academy Awards im April überhaupt keine Beachtung fand, obwohl es neben ausgezeichneten Filmen wie MINARI und NOMADLAND durchaus hätte mitmischen können.

Hierzulande läuft das bereits 2019 produzierte Filmdrama exklusiv beim Streaminganbieter MUBI, welcher die cineastischen Herzen seiner Abonnenten in letzter Zeit immer wieder freudig aufflammen ließ. Es ist wahrscheinlich die beste Kinoalternative für so eine Art von Film, die auf den Mainstream-Plattformen vom Algorithmus in die Ecke gedrängt oder kläglich unter den generischen Originalproduktionen untergegangen worden wäre. Nichtsdestotrotz hätten die Bilder eine große Leinwand verdient und die Geschichte einen großen, ruhigen Kinosaal, dessen Zuschauer sie in ihren Bann hätte ziehen können.

First Cow

First Cow ©2021 Mubi | Allyon Riggs | Courtesy of A24

Denn obwohl Reichardts Film auf den ersten Blick keine durchgängig ereignisreiche Geschichte erzählt und auch nicht in jeder Szene Nervenkitzel erzeugt, ist das Endprodukt ein sehenswertes und auch  fesselndes Werk. Das auf einen Roman von Jonathan Raymond basierende Westerndrama nimmt sich einem altbekannten Genre an, mischt es mit einer Prise Humor und einer innigen Freundschaft und entwirft ein ruhevolles, unglaublich stimmiges Bild einer kleinen, aber nicht minder bedeutungsvollen Geschichte.

Darum geht es…

Oregon-Terrotorium, Nordwesten der Vereinigten Staaten, 1820: Otis Figowitz (John Magaro), besser bekannt als Cookie, ist ein Außenseiter und schlägt sich als Koch für eine Gruppe von Pelzfängern durchs Leben. Eines Tages begegnet er dem Fremdländer King-Lu (Orion Lee) und rettet ihn aus einer misslichen Lage. Als dieser ihn bei ihrer nächsten Begegnung in seine Hütte einlädt, beginnt sich eine Freundschaft zwischen den beiden zu entwickeln. Grundlage dafür ist eine gemeinsame Geschäftsidee: der Verkauf von süßen Ölgebäcken auf dem örtlichen Markt. Als Zutat benötigen sie dazu frische Milch, welche sie heimlich von der einzigen Kuh der Gegend beziehen, die einsam auf dem Gelände des Chief Factors (Toby Jones) grast. Ihr Geschäft wird ein Erfolg, sodass der Chief persönlich nach einer Weile auf die beiden aufmerksam wird und sie mit einem Auftrag betraut…

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Geht ein Cowboy in die Bäckerei…

FIRST COW ist modernes Westerndrama, meditativer und humorvoller Buddy-Movie, gesellschaftskritische Parabel und historische Backstunde in einem. Vor allem zeichnet sich Kelly Reichardts Drama aber durch seine Unaufgeregtheit aus, mit der die Regisseurin das Zurechtkommen der Außenseiter in einer nasskalten, dreckigen Welt einfängt. Das Zusammenspiel der beiden ungleichen Männer ist der Kern der Geschichte und entwickelt sich zu einer tiefen, ehrlichen Freundschaft zwischen den Protagonisten. John Magaro und Orion Lee porträtieren keine Westernhelden, sondern eher abgeschlagene und verfolgte Persönlichkeiten, die ihre eigene Lebensgrundlage und Lebensvorstellungen auch auf illegalen Wegen anstreben. Die Welt um sie herum steckt förmlich im Morast fest, in einem ausbeutenden System, in dem der ortsansässige Chief Factor die einzige Kuh der Gegend sein Eigentum nennt, damit er ein paar Tropfen Milch für seinen Kaffee hat.

First Cow

First Cow ©2021 Mubi | Allyon Riggs | Courtesy of A24

Toby Jones als arroganter, privilegierter Chief Factor steht den Hauptdarstellern mit seiner schauspielerischen Leistung in nichts nach und präsentiert eine wunderbar unbequeme Performance. Jedes andere Schauspiel fügt sich ebenso gelungen in die Atmosphäre und das Zeitgeschehen des Films ein, von der grobhändigen und großmäuligen Auseinandersetzung am Wirtshaus, bis zur subtilen Komik beim Anstehen in einer Warteschlange. Für alle Star Trek affinen Science-Fiction-Fans gibt es zudem einen besonderen Gast zu bestaunen: der letzte filmische Auftritt des 2019 verstorbenen Rene Auberjonois, unter anderem bekannt als Sicherheitschef Odo in der Fernsehserie DEEP SPACE NINE.

Die Kuh als Sinnbild

In seiner Inszenierung fühlt sich FIRST COW stellenweise an wie ein ausgiebiger Waldspaziergang. Die Geräuschkulisse der Natur ist allgegenwärtig: Grillenzirpen, Feuerknistern, Vogelzwitschern und Windflüstern, unterstützen und überspielen sogar teilweise den zurückhaltenden Soundtrack. Außerdem lassen die Bilder kaum künstliche Lichtquellen vermuten und die ungemütliche Atmosphäre erst dadurch richtig in den Zuschauer eindringen. Die authentische Kulisse, der Dreck, die schiefen Pfähle und krummen Zelte tragen ihren Teil zur überzeugenden Zeitreise in ein vergangenes Jahrhundert bei.

First Cow

First Cow ©2021 Mubi | Allyon Riggs | Courtesy of A24

Letztendlich funktioniert FIRST COW nicht nur im Rahmen eines historischen Dramas, sondern schlägt auch Brücken zur Gegenwart. Sei es zum Konsum, zur Beschränkung von Ressourcen, zu Ausbeutung oder Rassismus – das Westerndrama fühlt vielen Themen auf den Zahn, ohne sie nur plump in den Raum zu stellen. Verbindungen zum Heute entstehen somit nicht nur durch den geheimnisvollen Prolog, sondern auch durch die Präsenz der Themen über zwei Stunden Laufzeit hinweg.

First Cow

First Cow ©2021 Mubi | Allyon Riggs | Courtesy of A24

Fazit

FIRST COW ist in erster Linie ein trefflich gespieltes Filmdrama im zurückhaltenden Westernsetting und mit einer ungewöhnlichen, aufrichtigen Männerfreundschaft im Mittelpunkt. Abseits des harmonierenden und später tragischen Miteinanders der Hauptfiguren, arbeitet der Film tiefschürfende Themen mit Fingerspitzengefühl, genügend Ruhe und einem feinen Sinn für Komik heraus. Er ist Balsam für eine von Schnittgewittern zerfressene Filmseele, eine interessante Charakterstudie und ein grau, klamm und dennoch in schönen Bildern eingefangener Neowestern. Und ganz nebenbei erzeugt er auch noch ein ungemeines Begehren nach heißen, frischen Gebäckstücken.

Schauspieler:in Rolle
Alia Shawkat Frau mit Hund
Dylan Smith Trapper Jack
John Magaro Cookie
Ryan Findley Anzapferin
Clayton Nemrow Trapper Clyde
Manuel Rodriguez Trapper Bill
Orion Lee King-Lu
Patrick D. Green Russion Trapper
Evie Die Kuh
Ewen Bremner Lloyd
Jared Kasowski Thomas
Rene Auberjonois Mann mit Raabe
Jean-Luc Boucherot Seeman im Saloon
Jeb Berrier Cribbage Spieler
Don MacEllis Brilliant William