Langreview English Version Fakten & Credits


Holy Spider Filmstill

Holy Spider ©2023 Alamode Film

Ähnlich wie das Grundgesetz in Deutschland die Rechtsprechung bestimmt, gilt in vielen nördlichen und östlichen afrikanischen Staaten sowie im Westen und Süden Asiens die Scharia. Diese ist auf religiösen Grundsätzen des Islams aufgebaut, wodurch der islamische Gott Allah zum obersten Gesetzgeber deklariert wird, und die Verhaltensweisen und Normen definiert. Vor allem aus Europa und Amerika erklingt immer wieder Kritik, da den Menschen in den betroffenen Ländern viele Freiheitsrecht verwehrt bleiben. Nach dem Tod von Jina Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei festgenommen und misshandelt wurde, weil ihr Kopftuch nicht entsprechend der iranischen Kleiderordnung angelegt war, entwickelten sich weltweit massive Proteste gegen die Frauenrechtslage vor Ort. Nach aktuellen Zahlen führten die Widerstände zum Tod von 574 Menschen.[1] Nur wenige Stunden vor Veröffentlichung dieser Review haben sich viele Hollywoodstars wie Bryan Cranston, Cate Blanchett, Jason Momoa, Jurnee Smollett und Olivia Wilde unter dem Hashtag #StopExecutionsInIran für ein Ende der brutalen Vorgehensweise ausgesprochen.

Diese Dramen entstanden erst nach Fertigstellung von Ali Abbasis HOLY SPIDER, welcher sich der Problematik basierend auf einem realen Fall aus den 00er Jahren nährt und sich mit dem Verbot der Prostitution im weitesten Sinne auseinandersetzt. Nachdem der Film auf dem Cannes Film Festival gezeigt und umjubelt wurde, wurden Hauptdarstellerin Zar Amir-Ebrahimi und Regisseur Ali Abbasi als blasphemisch von iranischen Offiziellen abgestempelt und das Werk als schamlose Obszönität bezeichnet. Dies geschah insbesondere, weil Abbasi mittlerweile seit mehr als 20 Jahren in Europa lebt und hier seine Filmkarriere begonnen hat. Bekannt durch den äußerst skurrilen Film BORDER hatte Abbasi auf Basis der Dokumentation AND ALONG CAME A SPIDER den Wunsch entwickelt einen Spielfilm über den Massenmörder Saeed Hanaei zu entwickeln. Ungewöhnlicherweise ist der Film in der Oscar® Shortlist für Dänemark zu finden, da das Werk von dort ausentwickelt wurde, auch wenn es ansonsten als vollständig iranischer Film betrachtet werden könnte.

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Holy Spider ©2023 Alamode Film

Darum geht es

Die iranische Journalistin Rahimi wird auf eine Mordserie aufmerksam, bei der die Opfer allesamt Prostituierte in der zweitbevölkerungsstärksten Stadt im Iran sind. Umgehend nimmt sie die Ermittlungen auf und muss schnell feststellen, dass sie damit mehr oder minder allein dasteht. Die örtliche Polizei hegt kein großes Interesse den Mörder zu fassen und auch Anwohnende sind eher dazu geneigt den Täter als Helden zu feiern. Indes ist der Serienmörder Saeed gar nicht sonderlich bestrebt seine Spuren perfektionistisch zu verwischen und genießt das plötzliche Ansehen, welches er unbekannterweise nun genießt. Tituliert als eine Art Erlöser, der die Stadt vom „Schmutz der Gesellschaft“ befreit und damit in göttlicher Mission steht, wird es für Saeed immer mehr zur Lebensaufgabe die Stadt zu bereinigen. Kann es unter diesen Umständen Rahimi überhaupt gelingen ihn dingfest zu machen und dafür zu sorgen, dass er seine angemessene Strafe erhält?

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Rezension

HOLY SPIDER ist ein absoluter Überraschungshit des dänischen Kinos und beweist wieder einmal, dass in Skandinavien praktizierende Regisseure ein Händchen für spannende und schwerverdauliche Krimis haben. Betrachten wir dieses Werk nämlich unabhängig von der bereits erwähnten realen Grundlage, so erleben wir eine facettenreiche und schockierende Geschichte, die in Ansätzen sogar dem Neo Noir zugeschrieben werden kann. Mit einer recht gediegenen Erzählweise schafft es Abbasi ein verbindendes Gefühl für Täter und Opfer zu erzeugen, so dass Unverständnis und Nachvollziehbarkeit sich überraschend dicht gegenüberstehen. Die Handlung wird gleichermaßen aus der Perspektive des Mörders Saeed sowie auch der der Journalistin Rahimi erzählt, wodurch eine stets interessante Verbrecherjagd entsteht.

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Holy Spider ©2023 Alamode Film

Die Vielschichtigkeit des Films wird dadurch ausgezeichnet, dass dieser sowohl als unabhängiger Krimi als auch als historische Aufarbeitung funktioniert. Leider wird jedoch nicht deutlich, dass die Mordserie tatsächlich so existierte und nicht der Fiktion entspringt. Ein entsprechender Hinweis oder ein angemessener Kontext wäre daher sehr angenehm gewesen. Gleichzeitig wird eine umfassende Kritik an der iranischen Frauenrechtslage formuliert, die zumindest aus westlicher Betrachtungsweise absolut wichtig und angemessen erscheint und im Hinblick auf die dortigen Proteste wohl auch vor Ort aufhorchen lassen wird. Laut Abbasi sollte jedoch mit diesem Werk kein politisches Statement gegen die iranische Regierung getroffen werden, auch wenn eine solche Assoziation wohl kaum vermeidbar ist. Viel eher möchte er darauf aufmerksam machen, dass es in der gesamten Welt eine „Dehumanisierung ganzer Gruppen von Menschen […] in unterschiedlicher Ausprägung“ gibt.




Herausforderungen unserer Zeit

Religiöser Fanatismus wird in diesem Beispiel auf die Spitze getrieben und die Grausamkeit der Menschen präsentiert sich in all ihren Abgründen. Ergänzend zur Hexenjagd müssen wir schließlich auch noch die Korruption der Justiz ertragen. Auch wenn lange Zeit fraglich ist, wie der Titel mit dem Gezeigten zusammenhängen soll, so entwickelt sich mit der Zeit doch eine eindeutige Bedeutungslage: Alle Ebenen einer ekligen Gesellschaft sind miteinander verwoben und werden von einem reaktionären System gestützt. Abseits dieser Interpretation verweist lediglich eine Kamerashot aus der Vogelperspektive darauf, dass auch die heilige Stadt in einem spinnennetzartigen Gebilde aufgebaut ist.

Warum muss er den Helden spielen?Holy Spider

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Holy Spider ©2023 Alamode Film

Bemerkenswert ist dabei vor allem das Schauspiel von Zar Amir-Ebrahimi, die eigentlich in diesem Film gar nicht zu sehen sein sollte und nun sogar die Hauptrolle erhielt. Ursprünglich war sie für das Casting verantwortlich und hatte in dieser Funktion eine andere Frau als Protagonistin erkoren, musste jedoch kurzfristig einspringen als die Darstellerin aus Angst vor dem Ablegen der Hidschab zurückzog. Dieser ungeplante Wechsel ist jedoch im Film nicht zu spüren und sie schafft es nicht nur ein authentisches Bild einer iranischen Journalistin zu erzeugen, sondern auch ein misanthropisches Bild gegenüber der misogynen Gesellschaft der heiligen Stadt Mashhad zu zeichnen. Es ist wunderbar zu sehen, dass auch Sara Fazilat, die zuletzt in TAUSEND ZEILEN als Journalistin zu sehen war und ebenfalls einen iranischen Hintergrund hat, in diesem Film eine Rolle bekam, auch wenn diese eher klein angelegt ist.

Fazit

Geschickt tänzelt der iranisch-dänische Regisseur Ali Abbasi mit HOLY SPIDER zwischen einem konventionellen, aber effektiven Krimi und einem historischen leicht dokumentarischen Drama hin und her. Dabei gelingt es ihm nicht nur einen interessanten und mitreißenden Storyaufbau zu gestalten, der sich natürlich an einer realen Vorlage orientiert, sondern vor allem auch eine umfassende Bedeutungsebene zu öffnen, die reichlich Diskussionsstoff mit sich bringt und thematisch wohl kaum aktueller sein könnte. Dabei übersieht man regelrecht, dass Hauptdarstellerin Zar Amir-Ebrahimi lediglich eine Notlösung war. Europäisches Kino war noch nie so westasiatisch wie hier und eröffnet zugleich erneut die Debatte, ob es angemessen ist, wenn westliche Wertevorstellungen über islamische Gesellschaftsordnungen urteilen. In jedem Fall gehört HOLY SPIDER auf jede Watchlist und ist angesichts der Thematik ein ernstzunehmender Konkurrent im Rennen um den diesjährigen Oscar®.

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Quelle:

[1] Iran top court accepts protester’s appeal against death sentence, Reuters, reuters.com, abgerufen am 07.01.2023