Rezension
Bevor die erste Episode den gemeinsamen Film von Ali Asgari und Alireza Khatami einleitet, erwacht das Panorama Teherans aus der Dunkelheit. Das ausklingende Nachtleben hängt noch in der Luft, der Lärm des Straßenverkehrs zwängt sich langsam zwischen die Häuser, in Hörweite sammeln sich Vögel. Zuletzt erwachen die Menschen, hektische Stimmen, Polizeisirenen bis ein ohrenbetäubendes Getümmel über der regungslos erscheinenden Hauptstadt liegt. Jene wird zur Wiege der folgenden Einblicke in die Konflikte einzelner Iraner*innen mit Behörden und politisch-religiösen Restriktionen.
Vignetten von Schreibtisch und Schalter
Die Geschichte um einen Vater, der den Namen David für sein neugeborenes Kind durchsetzen möchte, bildet die erste von neun in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen angesiedelten Episoden, die sowohl inszenatorisch als auch in ihrer Erzählform exemplarisch für viele der kommenden Kapitel steht. Wie die nachfolgende Geschichte um eine junge Frau, die beschuldigt wird, in ihrem Auto keinen Hijab getragen zu haben oder jene um einen arbeitslosen Mann, der bei einem Vorstellungsgespräch Demütigungen über sich ergehen lassen muss, setzt sich schon das erste Kapitel aus einer einzigen Einstellung und einem Dialog mit einer gesichtslosen Autoritätsperson zusammen. Dass letztere dabei nie vor der Kamera zu sehen ist, verknüpft die restriktiven, erniedrigenden Einstellungen und Anweisungen dieser zum eng verwobenen Sprachrohr des herrschenden Regimes.
Ein Gesicht bekommen hingegen die Menschen auf der anderen Seite des Tisches, der anderen Seite des Schalters. Die Menschen, deren unmittelbare Reaktionen Asgari und Khatami in stillstehenden Aufnahmen ungekünstelt beobachten. Die Schülerin, die von der Direktorin vorgeladen wird, weil sie mutmaßlich mit einem Jungen auf einem Motorrad gesehen wurde; der Regisseur, der um eine Drehgenehmigung kämpft; das junge Mädchen, das zu lauter Musik aus ihren Kopfhörern tanzt, während im Hintergrund ihr Auftreten in Schule und Öffentlichkeit zementiert wird. Wirklich Zeit, die Figuren und Probleme auszuarbeiten, findet die Kurzgeschichtensammlung, jedoch kaum: es bleibt oft bei filmischen Fingerzeigen.
Administrative Alltagsverse
Neu ist keines der Themen, die die Regisseure in den einzelnen Problemumrissen auf knappe Art und Weise verhandeln. Ohne Zurückhaltung und mit wenig Graustufen vorgetragen schon öfter. Zwar ergänzen die überschaubaren Kulissen mit Einrichtung und Positionierung der Protagonist*innen im Raum die Zustände und Hintergründe der Figuren, gleichzeitig schaffen es nur wenige der zugespitzten Miniaturen aus dem inszenatorisch und zeitlich begrenzten Korsett auszubrechen und ihre satirische Schärfe wirksam auszuspielen. Die marginalen Kontexte jedes kurzfilmartigen Beitrags bieten Platz für die universelle Übertragung einzelner Problemstellungen, aber nahezu keinen für tiefgründigere Schlussfolgerungen. Lose verbinden innige Freiheitsgedanken und Emanzipationsbestrebungen die simpel konstruierten Episoden, die oft mehr darauf bedacht scheinen, einem westlichen Publikum vereinfachten Zugang zu bieten, als die Probleme wirklich auszuarbeiten oder (neu) zu ergründen.
Fühlte sich Asgaris Vorgängerwerk UNTIL TOMORROW ebenso nüchtern und doch eindringlicher in die (Gefühls-)Welt einer jungen Mutter ein, bleibt in seinem Gemeinschaftswerk mit Khatami oft nur die Ebene der Botschaft übrig. Jene wirkt in Kurzform aber nicht immer so ausgefeilt, wie im Schaffen anderer iranischer Filmemacher*innen wie Vater und Sohn Panahi, auch wenn der Film wiederholt auf ausdrückliche Momente hinarbeitet. Zum Ende kehrt er dahin zurück, wo der Prolog des knapp achtzigminütigen Spielfilms einsetzte: zum Stadtbild Teherans. Diesmal betrachtet durch das Wohnungsfenster eines alten Mannes, der als einziger Protagonist kein einziges Wort ausspricht. Draußen vor dem Fenster kollabiert eine Stadt. Häuser fallen in sich zusammen, mit ihnen ein System. IRDISCHE VERSE hätte sicherlich gern die Inbrunst gehabt, die gezeigten Restriktionen und Marginalisierungen auf ähnliche Art und Weise einzureißen.
Fazit
Neun einzelne Einstellungen rahmen die neun, in der iranischen Hauptstadt angesiedelten Episoden, die sich auch im erzählerischen Aufbau immer wieder ähneln: Neun schnörkellos und formelhaft gefilmte Verse mit knapp umrissenen Lebensausschnitten, niedrigschwellig aufbereiteten, deshalb selten tiefer begriffenen Konflikten und bissig-satirischen Untertönen, die nicht jedes Kapitel präzise, sondern auch mal flach zum Ausdruck bringt.
Der in Cannes uraufgeführte Spielfilm ist ab dem 22. August 2024 auf DVD verfügbar.
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Originaltitel | آیه های زمینی |
Kinostart | 5.10.2023 |
Länge: | 77 minuten |
Produktionsland | Iran |
Genre: | Komödie | Drama |
Regie | Ali Asgari | Alireza Khatami |
Producer | Cyrus Neshvad | Reyhaneh Rad | Ali Asgari | Alireza Khatami | Milad Khosravi |
Kamera | Adib Sobhani |
Cast | Majid Salehi, Gohar Kheyrandish, Farzin Mohades, Sadaf Asgari, Hossein Soleymani, Faezeh Rad, Bahram Ark, Servin Zabetian, Arghavan Shabani, Ardeshir Kazemi, Babak Karimi, Behnaz Jafari, Sara Bahrami, Reza Behboudi, Kiumars Moradi, Paria Yaghoubi, Shaghayegh Faryad Shiran, Tofigh Heidari, Ali Asgari, Alireza Khatami |
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