Rezension
In seinem Dokumentarfilm TOKYO-GA begab sich Wim Wenders Mitte der 1980er Jahre auf filmische Spurensuche durch die titelgebende Millionenmetropole. Im Fokus: das Werk des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu, welches Wenders gleich zu Beginn als sein persönliches Heiligtum des Kinos beschrieb. Motive und Mitarbeiter des seit der Stummfilmzeit aktiv gewesenen und 1963 verstorbenen Regisseurs aufspürend, entstand ein nachdenklicher Film über Ozus Schaffens und die Veränderung Tokios und der japanischen Gesellschaft. Knapp vierzig Jahre später spielt Wenders Spielfilm PERFECT DAYS ebenfalls in der japanischen Hauptstadt und ist zudem Japans Oscar-Hoffnung für den Besten Fremdsprachigen Film.
Bis in diesem die ersten Sätze gesprochen werden, vergehen wortlose Minuten in denen Wenders den morgendlichen Alltag des Protagonisten beobachtet. Auch danach entpuppt sich der allein lebende Hirayama keineswegs als redseliger Zeitgenosse, aber als jemand, der nicht nur seiner Morgenroutine sondern auch seinem Job als Toilettenreiniger in der japanischen Großstadt mit äußerster Sorgfalt nachgeht. Tag für Tag reinigt er große und kleine Toilettenhäuschen mit Hingabe und Akribie, die wohl nur wenige seiner Kolleg*innen an den Tag legen. Wenders inszeniert dessen routiniertes Abarbeiten einzelner Stationen als kleines innerstädtisches Roadmovie und leise Charakterstudie.
Das Reden überlässt der dabei oft den Nebenfiguren: seinem überzeichneten Kollegen, der Hirayama als eine 9 auf der Skala der Sonderlinge beschreibt oder auch seiner jungen Nichte, die eines Tages unverhofft vor seiner Haustür auftaucht. In kleinen Gesprächen skizzieren sich jene Hintergründe und Wesenszüge des Hauptcharakters, die sich nicht allein aus den unauffälligen Bildern ablesen lassen. Sie vertiefen das geruhsame Charakterporträt, das wiederholt kurz davor ist, einem idealisierten Bild seines Protagonisten, dessen Arbeit und sozialen Umfelds zu erliegen.
Der japanische Freund
Hirayama ist fleißig, meistens gut gelaunt, unbeschwert und doch konzentriert bei der Arbeit. Er ist geduldig mit den Menschen, die mitten in seine Reinigung platzen, betrachtet in seinen Pausen fasziniert die Bäume, liest gern, ist bescheiden und hört am liebsten Songs von seinen alten Kassetten. Kōji Yakusho verkörpert den stillen Einzelgänger freundlich und authentisch, wenngleich dieser sich inmitten der nüchternen Aufnahmen und den Problemen sowie Schicksalsschlägen, die sich am Rande der Geschichte andeuten, stets etwas Unwirkliches und Unvollständiges bewahrt. Gutmütige Facetten des Charakterporträts überwiegen gesellschaftliche und persönliche Komplexität, während Zufriedenheit und Leichtigkeit zwar spätestens im letzten Drittel durchbrochen werden, die Situation des Protagonisten aber nie ausgereift und ungeschönt ergründet wird.
Dafür erzählt Wenders und Co-Autor Takuma Takasakis Geschichte von allerhand unscheinbaren Momenten, die sich in Hirayamas Alltag streuen. Vom Sehen und Gesehen werden, von der Aufmerksamkeit, die Menschen alltäglichen Dingen schenken oder nicht schenken und der Wenders in kleinen Kontrasten Leben einhaucht. Niemand, der wegen eines dringenden Geschäfts eines der akribisch gepflegten Toilettenhäusschen aufsucht, nimmt Hirayama oder dessen Arbeit wahr, im Gegenzug ist es der Protagonist, der selbst auf die kleine Jungpflanzen im Schatten ausgewachsener Bäume aufmerksam wird und sie in seinem Zuhause pflegt.
Weniger sorgfältig ausgearbeitet wirken indes die Momente der Verärgerung und Traurigkeit zwischen den in eine nostalgische Playlist getränkten Fahrten und alltäglichen Glücksempfindungen. Die Momente, die ehrliche Akzente setzen, aber negativ wahrgenommene Gefühle oder Familiendynamiken kaum tiefgreifender beleuchten oder realistischen Platz einräumen. Stattdessen bleiben diese so lose und ausschnitthaft wie die schwarzweißen Erinnerungssplitter in Hirayamas Träumen. Close-ups von Hirayama lassen die Tragik und Tiefe der Geschichte erahnen, doch Wenders möglicher Oscarkanditat blendet ab, ehe PERFECT DAYS darin vordringen kann. Andere seiner filmischen Roadtrips, ALICE IN DEN STÄDTEN oder PARIS, TEXAS, sind wesentlich kantiger, schroffer gewesen. Dieser hier ein vergleichsweise seichteres Unterfangen.
Fazit
Wie sich die Songs von den Kassetten des Protagonisten in den Soundtrack des Films weben, flechten sich unverhoffte Begegnungen in den einfachen Alltag Hirayamas. Diesen observiert PERFECT DAYS in einer sanftmütigen und entschleunigten Geschichte, der es stellenweise an tiefgreifenden Facetten und Kanten fehlt, nicht jedoch an feiner Beobachtungsgabe und einem überzeugenden Hauptdarsteller.
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Originaltitel | PERFECT DAYS |
Kinostart | 10.11.2023 |
Länge: | 124 minuten |
Produktionsland | Germany |
Genre: | Drama |
Regie | Wim Wenders |
Executive Producer | Koji Yakusho |
Producer | Reiko Kunieda | Yasushi Okuwa | Takuma Takasaki | Keiko Tominaga | Wim Wenders | Kota Yabana | Koji Yanai |
Kamera | Franz Lustig |
Visual Effects | Kalle Max Hofmann |
Cast | Koji Yakusho, 柄本時生, Arisa Nakano, 山田 葵, 麻生祐未, Sayuri Ishikawa, Tomokazu Miura, Min Tanaka, Miyako Tanaka, Long Mizuma, Soraji Shibuya, Aoi Iwasaki, Kisuke Shimazaki, Yuriko Kawasaki, Aki Kobayashi, Bunmei Harada, Reina, Shunsuke Miura, 古川がん, Atsushi Fukazawa |
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