DOK.fest München Festivalsbild

©DOK.fest München Festivalsbild

Wer online durch die von orangen Blöcken kategorisierten und mit kleinen Beschreibungen sowie Filmstills ausgestatteten Filmkacheln streift, den zieht es rasch von einem Ort zum nächsten: in die Untiefen des kolumbianischen Urwaldes, zu einer Tuberkulose-Klinik in georgischen Bergen bis auf eine Insel zwischen Nordpol und norwegischen Festland. Mehr als 50 Länder durchqueren die 130 Filmbeiträge zum diesjährigen DOK.fest München und noch einmal, wenn nicht sogar zwei- oder dreifach so viele Themen. Kaum genug Zeit und kaum genug Raum, sie alle innerhalb der sowohl im Kino als auch online stattfindenden Festivaltage anzusehen. Glücklicherweise reicht schon ein Dutzend oder auch nur eine Handvoll der Filme aus, um die Aktualität, den Entdeckungsdrang, die Themen- und Stilvielfalt auch in diesem Jahrgang auszumachen. So wie in den folgenden Filmen.

Adieu in Schwarz-Weiß

Nach vielen Jahren kehrt Sergio Guataquira Sarmiento in seine Heimat im kolumbianischen Dschungel zurück. Er möchte einer Welle von Suiziden nachgehen, die sich unter den indigenen Cácuas häufen. ADIEU SAUVAGE hält seine Reise in und Konfrontation mit einer ihm fremd gewordenen Welt fest und schweift von seinem anfänglichen Aufhänger zunehmend in Schilderungen der indigenen Lebenswelt ab. Deren Dorfalltag, in welchen sich der Protagonist und Regisseur nur unter Umständen einordnen kann, entfaltet sich in ruhigen Schwarz-Weiß- und Momentaufnahmen.

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Es sind zaghafte Annäherungen, welche die Perspektive eines Außenseiters niemals abstreifen können, die jedoch nicht nur vom reinen Berichten, sondern auch vom Austausch leben. Während Themen zwischenzeitlich aus dem Blick schwinden, fokussiert Sarmiento die Begegnungen mit dem Spanisch sprechenden Laureano. Gespräche, in denen sich einerseits persönliche Identitätskonflikte und andererseits Facetten der Cácuas, von der gegenwärtigen Lebensweise über Veränderungen und Generationenkonflikte, abzeichnen. Eine nachdenkliche, lose fokussierte Spurensuche vor beeindruckenden Urwald-Panorama und zwischen verschiedenen Lebensrealitäten, großen Naturaufnahmen und zurückhaltenden Emotionen, Einblicken in Traditionen und Fußballtraining.

City of Kokomo

Ebenfalls im Programm: D. Smiths unter anderem beim Sundance Film Festival sowie auf der diesjährigen Berlinale ausgezeichneter Dokumentarfilm KOKOMO CITY. Ohne Umschweife heftet sich dieser an einen von vielen Erfahrungsberichten, die das Leben und die Erfahrungen der vier im Mittelpunkt stehenden Schwarzen trans* Sexarbeiterinnen umreißen. Es sind emotionale, druckvolle Schilderungen, die sich in die alltäglichen Situationen beim Schminken oder in die legeren Interviewsequenzen setzen. Stilsicher zusammengehalten entfalten sich die Hintergrundgeschichten und mehrfachen Stigmatisierungen unterschiedlicher Biografien zu einer intimen Dokumentation in Graustufen.

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Deren Optik ist nur eines von mehreren inszenatorischen Mitteln, den bewegenden Geschichten und Botschaften in ihrer dokumentarischen Form eigenen Charakter zu verleihen. Noch deutlicher trägt der omnipräsente Soundtrack zur Gestalt Smiths Dokumentarfilm-Debüt bei, der die Momentaufnahmen und Berichte zu einer dynamisch in Szene gesetzten Summe zusammenfügt. In dieser verknüpfen sich Milieuseinblicke mit Charakterstudien, subjektives Erleben mit Außenansichten, nüchterne und affektive Beschreibung mit nachgestellten Erinnerungen. Emotional und expressiv, wie ein Ventil, durch das Gefühle und Erfahrungen entweichen können. Welches Ausmaß diese Erfahrungen von Transfeindlichkeit und körperlicher Bedrohung annehmen können, zeigt der Film ohne jemals eine Ohnmacht Überhand über die Protagonistinnen oder Situationen gewinnen zu lassen.

Salomon, Hitchcock und die verschwundene Mutter

Zum Großteil in Farbe, aber nicht weniger mitteilsam, zeigen sich zahlreiche Dokumentationen, die sich abseits aktuell-politischer und gesamtgesellschaftlicher Themen, Persönlichkeiten und ihrem zumeist künstlerischen, mindestens aber biografisch außergewöhnlichen Werdegang widmen. Marc Cousins neuste Dokumentation MY NAME IS ALFRED HITCHCOCK über die im Titel zentrierte Regiegröße weiß dem Schaffen des britischen Filmemachers jedoch kaum etwas Neues hinzuzufügen und enttäuscht mit einer wagnislosen Kombination aus Filmszenen und Porträtaufnahmen, denen auch Alistair McGowan als Stimme eines zum Leben erwachten Hitchcocks nicht über den Eindruck einer wenig facettenreichen und eintönig inszenierten Best-of Szenencollage verhelfen.

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Eine interessantere Werkschau zeigt der Film CHARLOTTE SALOMON, LIFE AND THE MAIDEN, auch weil dem Schicksal und Werk der deutsch-jüdischen Künstlerin bisher deutlich weniger Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Delphine und Muriel Coulins Dokumentarfilm taucht in die umfangreichen Bilder und Gedanken ein, die die junge Frau kurz vor ihrem Tod hinterließ und lässt sie mithilfe der Stimmen von Vicky Krieps, Hanna Schygulla und vielen anderen lebendig werden. Aussagekräftig und eindrucksvoll sind Salomons Bilder jedoch auch ganz ohne die Stimmen und die aufgesetzte Vertonung, deren gelegentlich hörspielartige Geräuscheffekte eher abzulenken, als die Wirkung des Gezeigten zu vertiefen wissen.

Privater Natur ist indes die Suche nach einer Mutter in Reed Harkness SAM NOW. Eine mehrere Jahre umspannende Dokumentation über Suchen und Finden einer einst nahestehenden Person, deren Weggang für die zwei Halbbrüder, aber auch für andere Familienmitglieder mit allerhand Fragen verbunden ist. In zahlreichen Heimvideoausschnitten und spielerischen Einsichten entspinnt sich eine ungewöhnliche Spurensuche, die nicht nur die an ein Wiedersehen geknüpften Erwartungen der Brüder, sondern auch die des Publikums unterwandert. Nur gelegentlich die Tiefe eines Familienalbums überragend, aber intim und ehrlich gefilmt und eine Vielfalt an Emotionen und Stimmungen durchspielend, wie sie viele der 130 Dokumentationen mit Aktualität, Dringlichkeit und Leidenschaft auf Leinwand und Bildschirm bringen.

Ein Großteil der Filme ist bis zum 21. Mai 2023 online verfügbar!