Uns alle trifft der Zahn der Zeit, manche härter und manche weniger hart. Gaspar Noé zählt zu den kontroversesten französischen Filmemachern und wurde zuletzt selbst mehrfach mit den Themen Tod, Krankheit, Leid und den Folgen des Alterns konfrontiert. Sowohl seine Großeltern als auch seine Mutter beobachtete der Regisseur aufmerksam, während sie immer mehr Opfer der Zeit wurden und dem natürlichen Verfall unterlagen. Auch er selbst war dem Tod sehr nah, als er mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus kam und mehrere Wochen ums Überleben kämpfte. Laut eigenen Angaben jedoch wirkte sich dies nicht auf die Idee des Films VORTEX aus, den er bereits zuvor im Kopf hatte. In der Umsetzung wurde weitestgehend auf ein Drehbuch verzichtet, und so mussten der berühmte Giallo-Regisseur Dario Argento und Franҫoise Lebrun als Hauptfiguren ihre Rollen nahezu komplett improvisieren. Auf seiner recht kurzen Festivalreise konnte VORTEX alle Nominierungen als Bester Film in eine entsprechende Auszeichnung umwandeln.
Darum geht es
Die täglich gleiche Routine umkreist ein altes Ehepaar, welches bereits seit vielen Jahren ein gemeinsames Leben teilt. Ihr Sohn, der bereits selbst ein kleines Kind hat, kommt die beiden immer wieder besuchen und versucht, sich um sie zu kümmern, doch das ist gar nicht so leicht. Insbesondere, weil die Frau mit Alzheimer zu kämpfen hat und stets irgendwo zwischen Realität und Traumwelt mit ihren Gedanken unterwegs ist. Während ihr Mann versucht, auch in hohem Alter weiterhin seinem Beruf nachzugehen und noch deutlich rüstiger und fitter auftritt, benötigt die alte Dame eigentlich eine Pflegeperson, die ihr durch den Alltag hilft. Doch dagegen weigert sich ihr Partner, der der Auffassung ist, selbst noch mit den Herausforderungen fertig zu werden. Doch immer wieder geschehen unvorhersehbare Ereignisse, die auf die Krankheit zurückzuführen sind, und es wird immer deutlicher: so kann es nicht weitergehen.
Rezension
Gaspar Noé, der bekannt ist für seine Experimentierfreudigkeit und der gerne Grenzen der Erträglichkeit versucht zu erreichen, sorgt mit seinem neusten Film wieder einmal für Aufmerksamkeit. Entgegen sonstigen Produktionen rührt diese jedoch nicht aus eklatanten Sex- und Gewaltszenen, die das Publikum dazu veranlasst, fluchtartig den Saal zu verlassen, sondern setzt er diesmal auf einen viel subtileren und alltäglicheren Horror, dem wir Menschen wohl oder übel im Laufe unseres Lebens alle begegnen. In einem viel zu langem Film serviert er uns die bittere Dramatik des Alters, die uns von hochgebildeten und agilen Persönlichkeiten zu scheinbar nutzlosen und einfältigen Kindern zurück transformieren kann. Starrsinnigkeit, Ignoranz und Übermut werden gekreuzt mit dem Wunsch nach Selbstbestimmung, Eigenständigkeit sowie einem würdevollen Lebensausklang.
Schlüsselelement dieses Films sind dabei die beiden Hauptdarsteller, die zwar grob wussten, was auf sie zukommen wird, aber weitestgehend ohne Vorbereitungen in einen Filmdreh hineinstolperten. In einem 25-tägigen Dreh wurde die ruhige und dezente Erzählung aufgenommen, die weitestgehend auf dramaturgische Spitzen verzichtet und schlichtweg aus der Melodramatik der Situation schöpft. Sowohl Dario Argento, der hier in seiner ersten Hauptrolle zu sehen ist, nachdem er in seinen eigenen Filmen höchstens mal als Cameo auftritt als auch Franҫoise Lebrun, die auf eine bewegende Filmkarriere zurückblickt, machen ihre Arbeit fabelhaft und könnten ihre Rollen kaum überzeugender spielen. Die Senilität beider Personen wirkt vollkommen echt und natürlich und sorgt dafür, dass das Publikum immer wieder Assoziationen zur eigenen Verwandtschaft entwickeln kann. Zudem liefert uns Argento einen der authentischsten Herzinfarkte, die die Kinoleinwand je gesehen hat.
Splitscreen gegen die Einsamkeit
Darüber hinaus bricht Noé in VORTEX wieder einmal mit visuellen Konventionen. Bereits in den ersten Szenen ist ersichtlich, dass er auf einen äußerst markanten Schnitt setzt, der sich durch Schwarzblenden auszeichnet, die weit mehr als nur einen Frame umfassen. Auch wenn der Umgang mit Schnitten eher dezent geschieht, so könnte der Filmgenuss für einige doch ein wenig getrübt sein, die Schwierigkeiten Flackerlicht und Stroboskoplicht haben, da die Augen gelegentlich etwas getriggert werden. Noch markanter ist jedoch, dass der gesamte Film in zwei Perspektiven gedreht ist, die im Parallelschnitt nebeneinander gezeigt werden. Zwei unterschiedliche Kameras folgen jeweils einer der beiden Hauptfiguren und sorgen dafür, dass wir stets wissen, was die jeweils andere Person in einem bestimmten Moment tut. Die kleinen, aber existierenden Höhepunkten wechseln dabei natürlich von Person zu Person, weshalb eigentlich immer etwas geschieht, dass neugierig macht.
Dieser Parallelschnitt erfolgt mittels zwei Bildern, die jeweils eine Hälfte des gesamten Breitbildes ausfüllen und gleichzeitig wie bei einer 35mm Kopie umrahmt sind. Laut Angaben der Schauspielenden sorgte diese Art der Produktion für einiges an Verwirrung beim Dreh, da dies doch hochtechnisiert wirkte und eine Menge aufwand bedeutete, da insbesondere darauf geachtet werden musste, welche Kamera sich zu welchem Zeitpunkt wo befindet und welches Bild einfängt. Laut Noé selbst sollten eigentlich nur einige wenige Szenen in diesem Stil gedreht werden, doch da er sich noch während der Aufnahmen mit dem Schnitt beschäftigte, erkannte er, dass die Aussagekraft die eine gesamte Produktion in diesem Stil bewirken könne. Insbesondere war ihm dabei wichtig zu zeigen, wie unterschiedlich auch ein gemeinsames Leben sein kann. Damit erweitert VORTEX die Ansätze, die bereits der Film EINSAM ZWEISAM lieferte, der sich jedoch eher auf die Einsamkeit bedingt der digitalen Isolation konzentriert.
Das Kind in mir
Noé schafft es, die Tristesse des Lebensabends hervorragend einzufangen und trotz einer eigentlich ereignislosen Handlung die Neugier des Publikums immer beim Film zu halten. Dies geht sogar so weit, dass wir Zuschauenden selbst beginnen, uns Sorgen um das Seniorenpaar zu machen und den Schrei der Hilfslosigkeit aufnehmen und bekämpfen wollen. Sentimentalität spielt eine ebenso große Rolle in VORTEX wie die Gegenüberstellung von konträren Persönlichkeiten. Insbesondere sucht Noé gerne den Vergleich zwischen Kindern, die sich noch nicht selbstständig ausdrücken können und daher sich andere Wege suchen, um auf sich aufmerksam zu machen und alten Menschen, die mit der gleichen Problematik nun wieder zu kämpfen haben. Ebenso übertrieben anstrengend, wie der Enkelsohn in dieser Geschichte zeitweise ist, präsentiert sich auch die Alzheimererkrankung der Figur von Lebrun, die in der Suche nach Aufmerksamkeit sehr unangenehm werden kann.
Fazit
Wer Gaspar Noé und Dario Argento auf dem Poster von VORTEX lesen wird, wird sofort die seltsamsten Gedankenspiele haben, was da wohl für ein Film herauskommen könnte. Tatsächlich überrascht Noé wieder einmal mit seinem Film auf eine Art und Weise, die vollkommen unerwartet kommt, denn eine solch lebensnahe Geschichte mit vollkommener Bodenständigkeit in der Erzählweise, einem extrem ruhigen Pacing und hervorragenden Schauspielenden, passt absolut gar nicht in das übliche Repertoire des Ausnahmeregisseurs. VORTEX ist kein großes Filmhighlight und dauert zudem auch viel zu lange, besticht aber durch seine bitterernste Ehrlichkeit und einer filmischen Inszenierung, die ich so noch nicht zuvor gesehen habe. Eine Sichtungsempfehlung möchte ich hiermit abgeben, aber dennoch darauf aufmerksam machen, dass die Erwartungen niedrig gehalten werden sollten und Liebhabende seiner sonstigen Filme womöglich nicht auf ihre Kosten kommen.
Wie hat Dir der Film gefallen?
Wer Gaspar Noé und Dario Argento auf dem Poster von VORTEX lesen wird, wird sofort die seltsamsten Gedankenspiele haben, was da wohl für ein Film herauskommen könnte. Tatsächlich überrascht Noé wieder einmal mit seinem Film auf eine Art und Weise, die vollkommen unerwartet kommt, denn eine solch lebensnahe Geschichte mit vollkommener Bodenständigkeit in der Erzählweise, einem extrem ruhigen Pacing und hervorragenden Schauspielenden, passt absolut gar nicht in das übliche Repertoire des Ausnahmeregisseurs. VORTEX ist kein großes Filmhighlight und dauert zudem auch viel zu lange, besticht aber durch seine bitterernste Ehrlichkeit und einer filmischen Inszenierung, die ich so noch nicht zuvor gesehen habe. Eine Sichtungsempfehlung möchte ich hiermit abgeben, aber dennoch darauf aufmerksam machen, dass die Erwartungen niedrig gehalten werden sollten und Liebhabende seiner sonstigen Filme womöglich nicht auf ihre Kosten kommen.
Wie hat Dir der Film gefallen?
The ravages of time hit us all, some harder and some less so. Gaspar Noé is one of the most controversial French filmmakers and has himself recently been confronted several times with the themes of death, illness, suffering and the consequences of ageing. The director watched both his grandparents and his mother closely as they became more and more victims of time and succumbed to natural decay. He himself was also very close to death when he was hospitalised with a stroke and struggled to survive for several weeks. According to his own statements, however, this did not affect the idea of the film VORTEX, which he had already had in mind beforehand. In the realisation, a script was largely dispensed with, and so the famous giallo director Dario Argento and Franҫoise Lebrun as the main characters had to improvise their roles almost completely. On its rather short festival journey, VORTEX managed to convert all Best Film nominations into a corresponding award.
This is what it’s all about
The same daily routine surrounds an old married couple who have been sharing a life together for many years. Their son, who already has a small child of his own, comes to visit them every now and then and tries to take care of them, but it is not so easy. Especially because the wife is struggling with Alzheimer’s and is always somewhere between reality and the dream world with her thoughts. While her husband tries to continue to pursue his profession even at an advanced age and still appears much sprightlier and fitter, the old lady actually needs a carer to help her through everyday life. But her partner refuses, believing that he can still cope with the challenges himself. But again and again unforeseeable events happen that can be traced back to the illness, and it becomes increasingly clear: things cannot go on like this.
Review
Gaspar Noé, who is known for his willingness to experiment and who likes to try to reach the limits of tolerability, once again attracts attention with his latest film. Contrary to other productions, however, this does not stem from blatant sex and violence scenes that cause the audience to flee the auditorium, but this time he relies on a much more subtle and everyday horror that we humans all encounter willy-nilly in the course of our lives. In a film that is far too long, he serves us the bitter drama of old age, which can transform us from highly educated and agile personalities back into seemingly useless and simple-minded children. Stubbornness, ignorance and cockiness are crossed with the desire for self-determination, independence as well as a dignified end to life.
The key element of this film are the two main actors, who knew roughly what was in store for them, but stumbled into a film shoot largely without preparation. The quiet and discreet narrative was shot in a 25-day shoot, which largely dispenses with dramaturgical tips and simply draws on the melodrama of the situation. Both Dario Argento, who is seen here in his first leading role after appearing at most once as a cameo in his own films, and Franҫoise Lebrun, who looks back on a moving film career, do a fabulous job and could hardly play their roles more convincingly. The senility of both characters seems completely genuine and natural and ensures that the audience can always develop associations with their own relatives. In addition, Argento gives us one of the most authentic heart attacks the cinema screen has ever seen.
Splitscreen against loneliness
Moreover, Noé once again breaks with visual conventions in VORTEX. It is already apparent in the first scenes that he relies on extremely striking editing, characterised by black screens that encompass far more than just one frame. Even though the use of cuts is done rather discreetly, the enjoyment of the film might be a little dulled for some who have difficulty flickering lights and strobe lights, as the eyes occasionally get a little triggered. Even more striking, however, is that the entire film is shot in two perspectives, shown side by side in parallel editing. Two different cameras each follow one of the two main characters, ensuring that we always know what the other person is doing at any given moment. The small but existing highlights change from person to person, of course, which is why there is always something happening that arouses curiosity.
This parallel editing is done by means of two images, each of which fills one half of the entire widescreen and is simultaneously framed like a 35mm print. According to the actors, this type of production caused quite a bit of confusion during the shoot, as it seemed highly technical and involved a lot of effort, particularly because it was necessary to pay attention to which camera was where at which time and which image was being captured. According to Noé himself, only a few scenes were actually supposed to be shot in this style, but as he was still working on the editing during the shoot, he realised that the expressiveness that an entire production in this style could achieve. In particular, it was important to him to show how different even a common life can be. VORTEX thus expands on the approaches already taken in the film DEUX MOI, which, however, focused more on loneliness conditioned by digital isolation.
The child in me
Noé manages to capture the dreariness of the evening of life excellently and, despite an actually uneventful plot, always keeps the audience’s curiosity with the film. This even goes so far that we viewers ourselves begin to worry about the senior couple and want to take up and fight the cry of helplessness. Sentimentality plays as big a role in VORTEX as the juxtaposition of contrasting personalities. In particular, Noé likes to seek comparisons between children who are not yet able to express themselves independently and therefore look for other ways to draw attention to themselves and old people who now have to struggle with the same problem again. Just as exaggeratedly exhausting as the grandson is at times in this story, the Alzheimer’s disease of Lebrun’s character also presents itself, which can become very unpleasant in its search for attention.
Conclusion
Anyone who will read Gaspar Noé and Dario Argento on the poster of VORTEX will immediately have the strangest thoughts about what kind of film might come out of it. In fact, Noé surprises once again with his film in a way that is completely unexpected, because such a true-to-life story with complete down-to-earthness in the narrative, extremely calm pacing and excellent actors, does not fit at all into the usual repertoire of the exceptional director. VORTEX is not a great film highlight and also lasts far too long, but it captivates with its bitter honesty and a cinematic production that I have never seen before. I would like to recommend a viewing, but I would like to point out that expectations should be kept low and that lovers of his other films may not get their money’s worth.
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Originaltitel | Vortex |
Kinostart | 28.04.2022 |
Länge | ca. 140 Minuten |
Produktionsland | Frankreich | Belgien | Monaco |
Genre | Drama |
Verleih | Rapid Eye Movies |
FSK | unbekannt |
Regie | Gaspar Noé |
Drehbuch | Gaspar Noé |
Produzierende | Toufik Ayadi | Christophe Barral | Serge Catoire | Arnaud Chautard | Brahim Chioua | Lucile Hadzihalilovic | Frédéric Jouve | Jean-Rachid Kallouche | Vincent Maraval | Michel Merkt | Patrick Quinet | Edouard Weil |
Kamera | Benoit Debie |
Schnitt | Denis Bedlow |
Besetzung | Rolle |
Dario Argento | Lui |
Françoise Lebrun | Elle |
Alex Lutz | Stéphane |
Kylian Dheret | Kiki |
Vuk Brankovic | |
Kamel Benchemekh | L’épicier |
Charles Morillon | |
Frank Villeneuve | |
Corinne Bruand | Claire |
Joël Clabault | Le voisin |
Philippe Rouyer | Ami de la Rédaction |
Jean-Pierre Bouyxou | Ami de la Rédaction |
Eric Fourneuf | L’aide à domicile |
Nicolas Hirgair | L’agent des pompes funèbres |
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