Bewertung Michel Rieck

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Originaltitel: Paris, Texas
Blu-ray – Digital Remastered – Release: 06.05.2021
Kinostart: 24.10.1984

FSK 12

FSK 12 ©FSK

Länge: ca. 145 Minuten
Produktionsland: Deutschland | Frankreich | Vereinigtes Königreich | USA
Regie: Wim Wenders
Schauspieler:innen: Harry Dean Stanton | Nastassja Kinski | Dean Stockwell
Genre: Drama
Verleih: StudioCanal Deutschland

Paris, Texas

Paris, Texas ©Studiocanal Deutschland

Eine glühende Steinwüste, durchzogen von kahlen Schluchten und staubtrockenen Felsen, inmitten ein Fremder, der nur noch etwas Wasser bei sich hat und ein Greifvogel, der jeden Schritt des Mannes beobachtet. Würde man den Film nach den ersten Minuten pausieren, würde der Eindruck entstehen, einen Western eingeschaltet zu haben. Läuft der Film danach weiter, offenbart sich schon bald einer der bekanntesten europäischen Filme und einer der bedeutendsten Regisseure Deutschlands hinter dieser in karger Landschaft fotografierten Ouvertüre. Verfolgte Wim Wenders in seinem Film ALICE IN DEN STÄDTEN einen erfolglosen Journalisten auf seiner Rückreise in die USA, nahm er sich in DER STAND DER DINGE der erfolglosen Inszenierung eines Science-Fiction-Films und den Problemen der Filmcrew an. In seinem 1984 erschienen Roadmovie, das nun im Mai 2021 neu restauriert als Blu-ray erschienen ist, widmet er sich von Beginn an einem unnahbaren und fremdartigen Charakter, dessen Vergangenheit lang im Dunkeln, dessen eigentliche Mission lang verborgen bleibt. PARIS, TEXAS war einer der größten Erfolge Wim Wenders und gewann 1984 die Goldene Palme in Cannes sowie den BAFTA Film Award in der Kategorie Bester Regisseur. Die Blu-ray-Veröffentlichung soll nun einmal Anlass geben, um auf dieses Werk zurückschauen.

Darum geht es…

Die Geschichte beginnt mit jenem fremden Mann, der orientierungslos durch eine texanische Ödnis streift und halb verdurstet und verwahrlost in einer abgelegenen Bar zusammenbricht. Er wird von einem Arzt gefunden, der den Bruder des Fremden kontaktieren und ihm von der misslichen Lage seines Verwandten berichten kann. Daraufhin eilt Walt von Los Angeles nach Texas, um seinen Bruder Travis nach Hause zu holen. Auf einem langen Roadtrip zurück nach L.A. berichtet Walt seinem Bruder, was während seines langen Verschwindens geschehen ist. Travis Exfrau ist verschwunden, er selbst galt als vermisst, und sein Sohn Hunter lebt inzwischen bei Walt und seiner Frau. Travis, der deutlich mitgenommen von seiner Vergangenheit scheint, ist zunächst zurückhaltend und gehemmt, fasst aber schon bald den eigensinnigen Plan, seinen Sohn zurück zu seiner leiblichen Mutter zu bringen …

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Von Roadtrips und zerbrochenen Spiegeln

Der Film beginnt als Roadtrip zweier Brüder, bleibt danach kurz bei einer Familiengeschichte stehen, nur um einen weiteren Roadtrip, diesmal von Vater und Sohn, anzuschließen und am Ende wieder an einem Ort stillzustehen. Der Film ist fast immer in Bewegung und verarbeitet das Motiv des Roadtrips, welches in Wim Wenders BIS ANS ENDE DER WELT wohl seinen Zenit erreichen sollte, auf unterschiedliche interpretierbare Art und Weise.  Ein ähnliches Schema lässt sich für das Vorkommen der Dialoge aufstellen: der Film beginnt, ähnlich wie die Landschaft es verkörpert, wortkarg und einfach, wechselt dann zu mehr oder weniger alltäglichen Dialogszenen, bis am Ende die Zeit für große Monologe gekommen ist. Die Strukturen des Films sind herausstechend und ließen sich schon an dieser Stelle interpretieren und im Zusammenhang mit dem Zustand der Hauptperson analysieren.

Paris, Texas

Paris, Texas ©Studiocanal Deutschland

Travis, gespielt von Harry Dean Stanton in einer seiner wenigen Hauptrollen, ist ein wandelbarer und über weite Strecken distanzierter Charakter. Das liegt vor allem daran, dass sich die Figur und deren Vergangenheit lang nicht öffnen und nur Andeutungen aus Dialogszenen und Treffen mit anderen Figuren gezogen werden können. Er ist kein Sympathieträger und erst recht kein nahbarer Protagonist, aber er trägt den Film nicht zuletzt aufgrund Stantons schauspielerischer Leistung. Diese ist sehr variabel, von zurückhaltend und verwirrt, verstört bis berührend und gerade bei seinem Monolog in der Spiegelszene offenbarend. Viel zugänglicher hingegen sind die Charaktere, die von Dean Stockwell und Aurore Clément verkörpert werden, die sich während der Abwesenheit beider Elternteile hingebungsvoll um Travis Sohn Hunter kümmerten. Deren Geschichte wird allerdings nach einiger Zeit fallen gelassen. Sie verschwinden aus dem Film, was sowohl einen Perspektivwechsel als auch ein paar interessante kritische Gedanken unabgeschlossen zurücklässt.

Der Film läuft auf ein Charakterdrama der Figur Travis hinaus, das sich besonders im Zusammenspiel mit Nastassja Kinski als Jane regelrecht entlädt und für packende Szenen im letzten Drittel sorgt. Die Motive, Beweg- und Hintergründe des Hauptcharakters rücken zuvor gezeigte Szenen in ein anderes Licht, die Aussparung der weiblichen Perspektive an dieser Stelle wirkt jedoch etwas unglücklich gelöst. Das Ende des Films ist dann auch alles andere als zufriedenstellend und äußerst diskutabel, wenn auch konsequent für die Hauptperson.

Paris, Texas

Paris, Texas ©Studiocanal Deutschland

Bilder aus Texas

Was man dem letzten Drittel des Films allerdings nicht ankreiden kann, ist seine überaus gekonnte Inszenierung, die kraftvolle Entladung zuvor aufgebauter Geheimnisse, die ganz ohne Special-Effects und überaus dramatische Musik auskommt, sondern sich allein aus dem Schauspiel und dem Schnitt ergibt. Der ganze Film ist in seiner Aufmachung herausragend, allen voran die ruhige und entschleunigte Herangehensweise, die ihren Figuren Zeit zum Entwickeln und zum Aufbauen gibt. PARIS, TEXAS ist einer jener Filme, der seinen Szenen Luft zum Atmen gibt und ihnen eine Natürlichkeit verleiht, die dann von den Eigenheiten der Charaktere aufgebrochen werden kann. Darüber hinaus formuliert die Musik von Ry Cooder die melancholischen Gedanken und Situationen der Figuren weiter und dichtet mit ihrem Gitarrenzupfen eigene Facetten hinzu, die sich wunderbar einfügen.

Und nicht zuletzt sind es natürlich die Bilder, die durch die wunderbare Kameraarbeit von Robby Müller entworfen werden, die intime Momente zwischen den Charakteren ebenso groß und episch einfangen wie beeindruckende Landschaften und weite, grenzenlose Straßen. Insbesondere die kräftigen Farben stechen in der Blu-ray-Veröffentlichung besonders hervor und verstärken die Atmosphäre und die Intensität der Bilder.

Paris, Texas

Paris, Texas ©Studiocanal Deutschland

Fazit

PARIS, TEXAS ist trotz seines amerikanischen Handlungsortes ein bedeutsamer Eintrag ins europäische Kino und ein Charakterdrama, welches es liebt, sich als Roadmovie in Szene zu setzen. Damit führt der Film dem Zuschauer nicht nur die folgenschwere Entwicklung eines Charakters vor Augen, sondern auch große Bilder und packende, herausstechende Darstellungen. Dass die Handlung gegen Ende diskussionswürdige Wege einschlägt, hat für mich ein Rewatch des Films unterstrichen. Das soll jedoch nicht davon abhalten, selbst rein zuschalten, sondern vielmehr dazu einladen, mitzudiskutieren.

Schauspieler:in Rolle
Harry Dean Stanton Travis Henderson
Sam Berry Tankwart
Bernhard Wicki Doktor Ulmer
Dean Stockwell Walt Henderson
Aurore Clément Anne Henderson
Claresie Mobley Autovermieter
Hunter Carson Hunter Henderson
Viva Frau im Fernseher
Socorro Valdez Carmelita
Edward Fayton Hunters Freund
Justin Hogg Hunter – Alter 3
Nastassja Kinski Jane Henderson
Tom Farrell schreiender Mann
John Lurie Slater
Jeni Vici Stretch


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