Haben Sie in den letzten zwei Wochen auffällige körperliche oder geistige Veränderungen bemerkt? Wurden Sie jemals aus einer Hausgemeinschaft aufgrund von unsozialen, unmoralischen oder unüberlegten Aktivitäten ausgeschlossen?
Ja? Dann sollten Sie die von Natalia Sinelnikova entworfene Hausgemeinschaft dringlichst meiden. Nein? Dann ebenfalls. In ihrem Langfilmdebüt widmet sich die Regisseurin dem Mikrokosmos einer wohlhabenden, abgeschirmten Wohn- und Hausgemeinschaft. Einer Geschichte von zweifelhafter Utopie und unverwüstlicher Machtstrukturen. WIR KÖNNTEN GENAUSO GUT TOT SEIN kommt aus Österreich und eröffnet auf der diesjährigen Berlinale die Sektion Perspektive Deutsches Kino.
Darum geht es…
Sicherheitsbeauftragte Anna lebt und arbeitet in einem großen Wohnhaus, welches abgeschieden am Rande eines Waldes liegt. Die Mitbewohner*innen der Hausgemeinschaft sind durch ein umfangreiches Bewerbungsverfahren sorgfältig auserlesen, es herrscht Frieden und Wohlwollen in dem begrünten Idyll und von der gefahrvollen Umwelt werden die Bewohner*innen so gut wie möglich abgeschottet. Doch dann verschwindet ein Hund, und Anna ist alarmiert. Die Ängste einzelner Anwohner*innen kochen hoch, und sie beginnen, Anna und die Ausübung ihres Jobs in Frage zu stellen. Diese sieht sich plötzlich nicht nur mit vermeintlichen Sicherheitslücken konfrontiert, sondern auch mit dem nahenden Verlust ihres Platzes unter den Privilegierten …
Rezension
Aufgewachsen in einem Hochhaus in St. Petersburg und als russisch-jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland immigriert, scheinen sich Erfahrungen und Beobachtungen der Regisseurin in diesem aus der Zeit gefallenen Ort zu kanalisieren. Das dystopische Innenleben des schick eingerichteten Wohnhauses folgt seinem eigenen System, projiziert ganze Vorortstrukturen in kahle vier Wände und konzipiert und produziert seine eigene intime Gesellschaft. Mittendrin die von Ioana Iacob (zuletzt UPPERCASE PRINT und LIEBER THOMAS) gespielte Anna, die zu Beginn des Films noch ausführende Gewalt verkörpert, deren Position sich jedoch zum Gegenteil wandelt.
Sie ist nicht nur die starrsinnige Sicherheitsbeamtin des Hauses, sondern auch mit ergründbaren Ängsten und Sorgen vor allem um ihre verschlossen auftretende Tochter Iris (Pola Geiger) versehen. Zunehmend schwinden ihre anfänglichen Sicherheiten und die grotesken Humorspitzen der Handlung und weichen einem bizarr dystopischen Drama und gelegentlich auch einem Horrorfilm. Ihr gegenüber stehen weniger greifbare Charaktere, eher tragende Spielsteine eines Systems, welches die Einflüsse von Angst auf gesellschaftliche Diskurse offenlegt, oder wie es die Regisseurin selbst beschreibt, die Frage ergründet, …
… welche Ventile sich Angst in einer Gemeinschaft sucht.
WIR KÖNNTEN GENAUSO GUT TOT SEIN wohnt von Anfang an Befremdlichkeit und Unbehaglichkeit Inne. Perspektiven sind mal geordnet und steril, mal fallen Räumlichkeiten durch Verzerrungen aus dem Rahmen. Atmosphärisch erinnert er mitunter an Girgos Lanthimos THE LOBSTER, besitzt ähnlich kühlen und düsteren Humor sowie emotionale Distanz. Für packende Sequenzen sorgt eine musikalische Bearbeitung des ukrainischen Volksliedes Schtschedryk (auch bekannt als Grundlage zu „Carol of the Bells“) sowie weitere gut platzierte Chorstücke. Da lässt sich leicht über kleinere Längen und eine stellenweise schon zu zaghafte Radikalität hinwegsehen.
Fazit
WIR KÖNNTEN GENAUSO GUT TOT SEIN ist ein amüsantes wie unheimliches Langfilmdebüt, welches seine Groteske mit skurrilen Figuren und ernsten Parallelen zur Wirklichkeit ausstaffiert. In seiner Bildsprache ist er zum Teil überdeutlich, andernorts jedoch auch vielseitig deutbar. Eine eigenwillig Sozialsatire, die nicht immer eine radikale Durchschlagskraft entwickeln kann, aber stilsicher und sorgfältig inszeniert ist.
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Originaltitel | Iris |
Berlinale – Release | 11.02.2022 |
Berlinale – Sektion | Perspektive Deutsches Kino |
Länge | ca. 93 Minuten |
Produktionsland | Deutschland | Rumänien |
Genre | Drama |
Verleih | unbekannt |
FSK | unbekannt |
Regie | Natalia Sinelnikova |
Drehbuch | Natalia Sinelnikova | Viktor Gallandi |
Produzierende | Charlene Gürntke | Julia Wagner | Magdalena Wolff | Lina Mareike Zopfs |
Kamera | Jan Mayntz |
Schnitt | Evelyn Rack |
Besetzung | Rolle |
Ioana Iacob | Anna Wilcynska |
Pola Geiger | Iris Anna Wilcynska |
Jörg Schüttauf | Gerti Posner |
Siir Eloglu | Ursel |
Susanne Wuest | Erika Drescher |
Knut Berger | Martin Drescher |
Moritz Jahn | Wolfram Mantel |
Mina Sadic | Zeynep |
Felix Jordan | Niklas Drescher |
Ludwig Brix | Golfspieler |
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