Die infantile Zerebralparese ist eine Folge einer zumeist frühkindlichen Hirnschädigung und sorgt dafür, dass betroffene Menschen in ihren Bewegungen auf unterschiedlichste Art und Weise eingeschränkt sein können. Eine solche Hirnschädigung kann verschiedenste Ursachen haben. Tatsächlich kann ich an dieser Stelle eine persönliche Erfahrung einfließen lassen. Mein Bruder hatte bei der Geburt kurzzeitig die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt, weshalb die Gefahr eines Sauerstoffmangels gegeben war. Glücklicherweise trug er jedoch keine Schäden davon. Solch eine Situation kann jedem passieren und tragischerweise sehr gefährlich werden. Fälschlicherweise bringt jedoch die breite Bevölkerungsmasse solch eine Schädigung häufig mit einem schlechten oder schwierigen Leben in Verbindung, obwohl hier keine wirklichen Zusammenhänge existieren. Auch wenn Bewegungseinschränkungen vorliegen, können die Menschen kognitiv oftmals sehr viel leisten und ein nicht weniger glückliches Dasein führen.
Hauptdarsteller und Regisseur Alexandre Jollien lebt mit einer solchen Zerebralparese und ist das beste Beispiel dafür, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Der Literatur und Philosophie studierte Schweizer, hat eine Familie mit drei Töchtern gegründet und lernt gerne die Welt kennen, während er Hörbücher, Bücher und nun sogar Kinofilme entwickelt. Hierfür hat er sich mit Co-Regisseur Bernard Campan zusammengeschlossen, der neben Regiedebütant Jollien die zweite Hauptrolle von GLÜCK AUF EINER SKALA VON 1 BIS 10 mimt. Campan ist zwar schon deutlich erfahrener hinter der Kamera, ist jedoch oftmals eher als Schauspieler von Werken wie EIN SACK VOLL MURMELN oder ALLES KEIN PROBLEM bekannt. Angelehnt an biografische Auszüge von Jolliens Vergangenheit schrieben beide zusammen mit einem etwas erweiterten Kreis auch das Drehbuch für den hiesigen Film.
Darum geht es
Louis ist als Inhaber eines Bestattungsunternehmens in einer häufig schief beäugten Branche tätig. Dennoch liebt er seinen Job und sorgt sich väterlich um sein Team. Bei Engpässen packt er auch gerne einmal selbst an. Als er gerade von einem Kundentermin kommt, ist er im Auto jedoch einen kurzen Moment nicht aufmerksam und sorgt mit seiner Fahrweise dafür, dass der Gemüse ausfahrende Igor von der Straße abdriftet und einen Unfall hat. Dies ist das erste Mal, dass sich die Wege der beiden Männer kreuzen, doch es soll nicht das Letzte sein. Als Igor sich gerade auf eine metaphysische Reise an einem etwas ungewöhnlichen Ort begibt, merkt Louis nicht, dass er auf seiner Geschäftsreise nach Südfrankreich einen blinden Passagier an Bord seines Leichenwagens hat. Doch das ungleiche Paar freundet sich schnell miteinander an und die beiden erleben ein wildes Abenteuer.
Rezension
Die Frage ‚Was ist Glück?‘ gilt als beliebte Thematik im Filmuniversum und wird immer wieder aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet. Es scheint jedoch einen stillschweigenden Konsens zu geben, dass insbesondere Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung den Pfad zum Glücklichsein leichter finden als alle anderen. Prominente Filmbeispiele markieren da FORREST GUMP, DAS GLÜCK AN MEINER SEITE und ZIEMLICH BESTE FREUNDE. Hauptdarsteller Alexandre Jollien versucht sich gar nicht erst an einer allgemeingültigen Antwort, sondern probiert die Frage auf eine persönliche Ansicht herunterzubrechen. In einem Interview lautet daher sein Statement:
Für mich, aber das ist sehr grundlegend, bedeutet Glück, in eine Dynamik des Fortschritts eingebunden zu sein. Wie Igor sagt: Sie sind verletzt, aber sie gehen weiter. Ich glaube, dass das Schlimmste heute der Stillstand ist. Wenn man in sozialen Haltungen oder in Verletzungen eingeschlossen ist. Das ist ein innerer Tod.Presseheft zu Glück auf einer Skala von 1 bis 10
Mit ihrem gemeinsamen Film haben Jollien und Campan eine leicht verdauliche Dramödie geschaffen, die bestechende Ähnlichkeiten in der Charakteristik sowie dem Aufbau mit ZIEMLICH BESTE FREUNDE vorweist. Mit einem etwas gedämpften, aber nicht weniger unterhaltsamen Humor, der sich stets darauf fokussiert, alt eingefahrene und verkrustete Denkweisen über Bord zu werfen, um schließlich ein deutlich freieres und unbeschwerteres Leben führen zu können. Die fehlende Freiheit schlägt sich dabei auf beide Protagonisten in unterschiedlicher Form nieder. Während Campans Figur vom Joballtag eingeschnürt wird und ihm keinen Raum lässt, ein funktionierendes Privatleben zu entwickeln, findet ähnlich bei Jolliens Darstellung im privaten und seiner Persönlichkeit statt. Er selbst strebt an, sich aus der gluckenähnlichen Behütung seiner Mutter zu befreien und ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben nach seinen Wünschen zu führen.
Bekannte Themen neu aufgefrischt
Sowohl mit der Definition von Glück als auch mit der Handlung des Films kritisiert das Filmteam die immer gleichen Mechanismen, die viele Personen heut zu Tage in Endlosschleife abspielen und dadurch vergessen, die Existenz auszukosten. Gleichzeitig untersucht das Werk mit verschiedenen Perspektiven, wie wir unsere Umwelt und Mitmenschen wahrnehmen, insbesondere in Hinblick auf Toleranz und Akzeptanz von behinderten Menschen im Alltag. Dies ist zwar absolut kein Alleinstellungsmerkmal, doch ist es immer wieder wichtig, die Leute darauf aufmerksam zu machen, dass ein freundlicher und hilfsbereiter Umgang stets das Wichtigste ist. Zeitgleich sensibilisiert GLÜCK AUF EINER SKALA VON 1 BIS 10 das Publikum dahingehend, dass Menschen mit einer Behinderung kein gesellschaftlicher Ausschuss sind, sondern nicht selten mehr vom Leben verstanden haben als gesunde Personen und gleichzeitig natürlich Lebewesen mit Gefühlen und Bedürfnissen sind.
Fazit
Mit dieser persönlichen Geschichte feiern die beiden Regisseure ihre eigene gemeinsame Vergangenheit und bieten uns einen charmanten Roadtrip, der voll und ganz auf der Feel Good Schiene unterwegs ist und zwischen amüsanten und herzergreifenden Momenten noch ein wenig Platz lässt für ehrliche und sympathische Figuren, die aufgrund ihrer realen Freundschaft auch im Film liebevoll und nahbar miteinander agieren, einen klavierbasierten Score sowie ein philosophisches Feuerwerk, welches uns einen Aufhänger nach dem anderen liefert, der uns den Sinn unseres eigenen Lebens hinterfragen lässt. Die Symbolik des Leichenwagens für das abgestumpfte und tote Leben, welches beide Protagonisten führen, trifft es in der Bildsprache wunderbar. Hätte man nun noch den Mut gehabt auf das schweigereske Ende, welches jedoch biografischer Natur ist, zu verzichten, würde nicht dieser unangenehme Nachgeschmack auf der Zunge liegen, der nun leider übrig bleibt.
Wie hat Dir der Film gefallen?
Jährlich gibt es mindestens einen Streifen, der sich damit auseinandersetzt, was Glück eigentlich ist oder wie man die Glückseligkeit erreicht. Dieses Jahr dürfen wir uns dem wieder einmal aus französischer Perspektive nähern, und wer sich das Poster zum Film anschaut und den Titel durch den Kopf gehen lässt, wird sofort eine filmische Assoziation im Kopf haben, was von diesem Werk erwartbar ist. Tatsächlich erhalten wir genau das – nicht mehr, aber glücklicherweise auch nicht weniger. Die beiden Regisseure Bernard Campan und Alexandre Jullien, die zugleich die Hauptdarsteller und Drehbuchautoren dieses Films sind, präsentieren uns hier Auszüge ihre Lebensgeschichte, ohne dabei biografisch zu werden. Das Ganze wird verpackt in einer herzlichen Feel Good Roadmovie-Geschichte, die zwar das ein oder andere Mal etwas zu romantisiert wirkt, aber gleichzeitig auch bodenständig und ehrlich bleibt. Ein charmanter Film, der nicht lange an Einzelheiten festhält und nicht versucht, mehr zu sein als er ist.
Wie hat Dir der Film gefallen?
Infantile cerebral palsy is a consequence of brain damage, usually in early childhood, and ensures that affected people can be restricted in their movements in a wide variety of ways. Such brain damage can have a wide variety of causes. In fact, I can share a personal experience at this point. My brother had the umbilical cord wrapped around his neck for a short time when he was born, so there was a risk of oxygen deprivation. Fortunately, he did not suffer any damage. Such a situation can happen to anyone and, tragically, can be very dangerous. However, the general population often mistakenly associates such an injury with a bad or difficult life, even though there is no real connection. Even when there are movement impairments, people can often achieve a great deal cognitively and lead a no less happy existence.
Lead actor and director Alexandre Jollien lives with such cerebral palsy and is the best example of the fact that everyone is the architect of their own happiness. A Swiss national who studied literature and philosophy, he has raised a family with three daughters and enjoys learning about the world while developing audio books, books and now even feature films. For this, he has teamed up with co-director Bernard Campan, who mimes the second lead role of GLÜCK AUF EINER SKALA VON 1 BIS 10 alongside debutant director Jollien. Campan is considerably more experienced behind the camera, but is often better known as an actor in works such as UN SAC DE BILLES or LES TROIS FRÈRES. Based on biographical excerpts from Jollien’s past, both of them, together with a somewhat extended circle, also wrote the script for the film here.
Here’s what it’s about
Louis is the owner of a funeral home in an industry that is often looked at askance. Nevertheless, he loves his job and cares for his team like a father. When bottlenecks arise, he also likes to lend a hand himself. However, when he has just come from a customer appointment, he is not attentive for a brief moment in the car and, with his driving, causes the vegetable-driving Igor to drift off the road and have an accident. This is the first time the two men’s paths have crossed, but it is not to be the last. As Igor is about to embark on a metaphysical journey in a somewhat unusual place, Louis doesn’t realise that he has a stowaway aboard his hearse on his business trip to the south of France. But the mismatched pair quickly become friends and the two have a wild adventure.
Review
The question ‘What is happiness?” is considered a popular theme in the cinematic universe and is always looked at from a variety of perspectives. However, there seems to be a tacit consensus that people with a physical or mental disability in particular find the path to happiness easier than anyone else. Prominent film examples mark FORREST GUMP, YOU’RE NOT YOU and INTOUCHABLES. Lead actor Alexandre Jollien does not even attempt a generally valid answer, but tries to break the question down to a personal view. In an interview, his statement is therefore:
For me, but this is very basic, happiness means being involved in a dynamic of progress. As Igor says, they hurt, but they move on. I think that the worst thing today is stagnation. When you are locked in social attitudes or in injuries. That is an inner death.Press booklet on Glück auf einer Skala von 1 bis 10
With their joint film, Jollien and Campan have created an easily digestible drama that has striking similarities in characteristics as well as structure to INTOUCHABLES. With a somewhat subdued, but no less entertaining humour, which always focuses on throwing old, entrenched and encrusted ways of thinking overboard in order to finally be able to lead a much freer and more carefree life. The lack of freedom affects both protagonists in different ways. While Campan’s character is constricted by the daily routine of his job, leaving him no room to develop a functioning private life, a similar thing happens with Jollien’s portrayal in the private sphere and his personality. He himself strives to free himself from his mother’s cluck-like guardianship and lead a self-determined and self-reliant life according to his wishes.
Familiar themes revisited
Both with the definition of happiness and with the plot of the film, the film team criticises the same mechanisms that many people today play out in an endless loop and thus forget to savour existence. At the same time, the work uses different perspectives to examine how we perceive our environment and fellow human beings, especially with regard to tolerance and acceptance of disabled people in everyday life. While this is absolutely not a unique selling point, it is always important to make people aware that friendly and helpful interaction is always the most important thing. At the same time, GLÜCK AUF EINER SKALA VON 1 BIS 10 sensitises the audience to the fact that people with a disability are not a social rejects, but often understand more about life than healthy people and at the same time are of course living beings with feelings and needs.
Conclusion
With this personal story, the two directors celebrate their own shared past and offer us a charming road trip that is completely on the feel good track and, between amusing and heartrending moments, still leaves a little room for honest and sympathetic characters who, due to their real friendship, also act affectionately and close to each other in the film, a piano-based score as well as philosophical fireworks that provide us with one hook after another that makes us question the meaning of our own lives. The symbolism of the hearse for the jaded and dead life that both protagonists lead is wonderfully apt in the imagery. If one had had the courage to dispense with the silence-esque ending, which is, however, of a biographical nature, there would not be this unpleasant aftertaste on the tongue, which unfortunately now remains.
How did you like the movie?
Originaltitel | Presque |
Kinostart | 02.06.2022 |
Länge | ca. 92 Minuten |
Produktionsland | Frankreich | Schweiz |
Genre | Komödie | Drama |
Verleih | X Verleih |
FSK |
Regie | Bernard Campan | Alexandre Jollien |
Drehbuch | Bernard Campan | Alexandre Jollien | Marine Autexier | Helene Gremillon | Manuel Poirier |
Produzierende | Bernard Campan | Nathalie Gastaldo | Philippe Godeau | Matthieu Henchoz | Charlotte Ortiz |
Musik | Niklas Paschburg |
Kamera | Christophe Offenstein |
Schnitt | Camille Rabineau |
Besetzung | Rolle |
Bernard Campan | Louis Caretti |
Alexandre Jollien | Igor Parat |
Tiphaine Daviot | Cathy |
Julie-Anne Roth | Nicole |
La Castou | La mère d’lgor |
Marie Benati | Elsa |
Marilyne Canto | Judith |
Anne-Valérie Payet | Caroline |
Sofiia Manousha | Natasha |
Marie Petiot | Bérengère |
Maurice Aufair | Homme formulaire |
Roméo Henchoz | Le primeur |
Joachim Chappuis | Joachim |
Annie Christ | Dame chausson |
Wie hat Dir der Film gefallen?
Hinterlasse einen Kommentar