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Wer wir gewesen sein werden

Wer wir gewesen sein werden ©2022 Erec Brehmer

Das Futur II ist eine deutsche Zeitform, die im Grunde zweierlei Verwendung findet, in beiden Formen jedoch nur eine Vermutungsäußerung beinhaltet. Einerseits dient diese auszudrücken, dass eine Handlung höchstwahrscheinlich zu einem künftigen Zeitpunkt abgeschlossen sein wird. Andererseits kann man damit auch Vermutungen über Handlungen in der Vergangenheit anstellen. Somit stellt diese sprachliche Anwendung genau das richtige Konstrukt dar für den gerade einmal 35-jährigen Erec Brehmer, der bereits einige Hürden in seiner Vergangenheit zu meistern hatte und in seinem neusten Film über eine Thematik erzählt, die er noch nicht als abgeschlossen betrachtet. WER WIR GEWESEN SEIN WERDEN ist erst der zweite Film nach LA PALMA, der unter seiner Direktion entstand und wird mit Sicherheit einer der wichtigsten seines ganzen Lebens sein.

Darum geht es

Eigentlich hätte Erec nie so recht damit gerechnet, einmal die passende Partnerin, mit der er alt werden möchte, zu finden. Als Filmemacher ist er immer ein wenig in seiner eigenen kleinen Welt gefangen. Doch als er Angelina Zeidler begegnet, ändert sich für ihn alles und es beginnt eine aufregende Zeit voller Zweisamkeit, gemeinschaftlicher Pläne, Zuneigung und gegenseitiger Unterstützung. Alles scheint perfekt, doch das Schicksal hat manchmal ganz eigene Pläne mit den Menschen. So kommt es, dass ein schwerer Autounfall eine Welt für Erec zusammenbrechen lässt und Angelina in Folge der Verletzungen verstirbt. Statt Hochzeitsvorbereitungen steht nun die Organisation eines Begräbnisses an. Statt Kinderplanung ist Erec tagein, tagaus mit der mentalen Bewältigung dieses schrecklichen Schocks beschäftigt. Darf er je wieder glücklich sein? Wann ist dieser Zeitpunkt gekommen? Ist ein vernünftiges Leben ohne Angelina überhaupt für ihn möglich? Dies sind nur einige Fragen, vor denen der junge Filmemacher plötzlich steht.

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Rezension

Was gibt es Besseres für einen Filmemacher, als seine eigene Geschichte zu verfilmen und dabei aus den Vollen seiner privaten Aufnahmen zu schöpfen? Was gibt es allerdings Schrecklicheres, dies als Bewältigung der eigenen Trauer und Verzweiflung zu machen und damit einer Person ein Denkmal zu setzen, die niemals davon erfahren wird? WER WIR GEWESEN SEIN WERDEN stellt eine liebevolle und herzergreifende Hommage dar, die teilweise sogar zu Tränen rührt, gleichzeitig aber nicht nur eine persönliche Geschichte ist, sondern dem Publikum die Möglichkeit der Selbstreflexion bietet. Brehmer, der den Film ursprünglich nur für sich entwickelte und auf Anraten anderer Regiekolleg*innen sich entschloss, das Werk noch einmal in einer neuen Montage zusammenzustellen, bietet seinen Zuschauenden einen Ansatz der Trauerbewältigung und des Verstehens. Er versucht zudem Antworten zu finden auf scheinbar unlösbare Fragen.

Wer wir gewesen sein werden

Wer wir gewesen sein werden ©2022 Erec Brehmer

Statt also nur einen kurzen Abschnitt des eigenen Lebens dokumentarisch aufzuarbeiten, liefert er einen Ratgeber der vielen Menschen, die in einer ähnlichen Situation stecken, Halt geben könnte und ihnen Hinweise liefert, wie das Leben weitergehen kann, auch wenn es für andere vorbei ist. Zugutekommt ihm dabei natürlich, dass er schon vor Beginn dieses Projekts in der Filmbranche tätig war und auch privat leidenschaftlich gern alles auf Kamera festgehalten hat. Wie er selbst im Film sagt, musste seine Partnerin es lernen, damit umzugehen, dass sie einfach zu so ziemlich jedem Zeitpunkt gefilmt wurde. Dadurch existiert eine beeindruckend große Materialsammlung, die in den Aufnahmen oftmals qualitativ hochwertig ist und gleichzeitig Eindrücke jeglicher Gefühlslagen bietet. Zudem wird auch immer wieder auf Handyfotos und -videos zurückgegriffen, wodurch ein nicht unwesentlicher Teil des Werks im Hochformat stattfindet und sich damit deutlich von anderen vorab geplanten Dokumentationen unterscheidet.




Ratgeber statt Dokumentation

WER WIR GEWESEN SEIN WERDEN wird zu einer sehr persönlichen Geschichte, in die sich die Zuschauenden jedoch mit Leichtigkeit hineinfühlen können. Um den informativen Kontext zu bieten, führt der Regisseur mittels Offstimme selbst durch die Geschehen und erzählt nicht nur von den vielen Erlebnissen, sondern auch von seinen Gefühlen und Gedanken, die wiederum erkennbar machen sollen, dass andere Personen in ähnlichen Situationen nicht allein in ihrer Gefühlswelt sind und es unzählige Menschen gibt, denen es genauso geht.

Wer wir gewesen sein werden

Wer wir gewesen sein werden ©2022 Erec Brehmer

Brehmer nutzt für seinen Film einen gut getimten dramaturgischen Aufbau, der dem Publikum erst eine Personalisierung der Protagonistin bietet, dann auf den tragischen Verlust zu sprechen kommt und schließlich Einblicke in die Gegenwart und die mentale Verarbeitung liefert. Dadurch, dass die Geschichte authentisch und ehrlich erzählt wird und keinerlei distanzierte Betrachtungsweisen einnimmt, ist es leicht für rezipierende Personen, sich mit der Handlung zu identifizieren und letztlich sogar die Liebe des Regisseurs für Angelina zu teilen. Eine subjektive Inszenierung kann weitestgehend ausgeschlossen werden, da viele Aufnahmen nicht mit einem festen Zweck geplant waren, auch wenn natürlich die Zusammenstellung und Interpretation derer Inhalte arg vom Zusammenschnitt beeinflusst werden. Tragischerweise ist der Film trotz gerade einmal 81 Minuten Spieldauer etwas zu lang geraten und verfällt teilweise zu sehr ins Labern, wodurch gerade gen Ende hin das Interesse zunehmend schwindet. Insbesondere setzt dies ein, als der Rückblick sich von Angelinas Geschichte immer weiter entfernt.

Wer wir gewesen sein werden

Wer wir gewesen sein werden ©2022 Erec Brehmer

Fazit

Auch wenn Brehmer selbst meint: „Dieser Dokumentarfilm wurde nicht gemacht, um mich als Filmemacher zu profilieren“, so schwingt doch immer auch ein bisschen das unschöne Gefühl mit, dass aus dem Tod eines anderen Menschen nun Geld gewonnen wird. Gleichzeitig wünscht man diesem Film jedoch einen großen Erfolg, da er fabelhaft eine persönliche Geschichte verallgemeinert und daher nicht nur dem Regisseur selbst als Hilfe zur Verarbeitung seines Verlustes dienen wird, sondern auch vielen anderen Menschen ein bisschen Halt bieten kann. Brehmer liefert ein mitreißendes und einfühlsames Werk ab, welches angesichts der Umstände äußerst beachtenswert ist und bei welchem kleinere Ungenauigkeiten großzügig übergangen werden können. Dennoch sollte jedem interessierten Filmbesuchenden klar sein, dass hier eine Dokumentation erwartet werden kann, die von Lachen bis Weinen eine enorme affektvolle Bandbreite bietet und schlussendlich doch sehr auf das Gemüt schlägt.

EDIT: Laut Herr Brehmer werden die Gewinne des Films an Trauereinrichtungen gespendet. Das finden wir natürlich äußerst lobenswert und unterstützungswürdig, weshalb wir hiermit natürlich gerne den Einleitungssatz des Fazits revidieren wollen.

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